Daniel Ziblatt

Harvard Birklehof

Als Gastschüler in Deutschland - eine prägende Zeit

Birklehof: Herr Ziblatt, Sie waren zur Zeit der Wiedervereinigung 1990/91 Schüler am Birklehof. Was für Erinnerungen haben Sie daran?

Daniel Ziblatt: Es war für mich eine sehr intensive und aufregende Zeit! Ich kam als Gastschüler aus den Vereinigten Staaten, kannte mich mit Deutschland nicht besonders gut aus und sprach anfangs kaum Deutsch. Der Schulleiter begrüßte mich damals freundlich mit „Herzlich willkommen!“, aber ich verstand nicht, was das überhaupt heißt. Das alles hat sich sehr geändert, und zwar durch meine Zeit an dieser Schule. Ich konnte in meinem halben Jahr am Birklehof das Land und seine Kultur kennenlernen, und ich lernte natürlich auch die Sprache. Ich lebte damals im Haupthaus in einem Zimmer mit zwei Mitschülern. Die Ferien verbrachte ich dann bei meiner Gastfamilie in Hannover, wir sind gemeinsam in alle möglichen Teile Deutschlands gereist. Nach meiner Zeit am Birklehof war mir klar geworden: Ich möchte mich später beruflich mit Politik und deutscher Geschichte beschäftigen. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass mein Buch „Wie Demokratien sterben“ nie geschrieben worden wäre, wenn ich nicht am Birklehof gewesen wäre.

Birklehof: Dann reden wir doch über Ihr Buch: Ist unsere westliche demokratische Ordnung in Gefahr?

Daniel Ziblatt: So einfach lässt sich das nicht sagen. Die Zahl der Demokratien ist ja in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gestiegen, und zwar bis etwa 2010. Diese Entwicklung können wir beispielsweise in Afrika sowie in anderen Schwellenländern erkennen. Was wir allerdings seit etwa 2010 feststellen können: Die Demokratie ist mit neuen Herausforderungen konfrontiert, deren Bewältigung für sie schwierig und ungewohnt sind.

Birklehof: Um welche Herausforderungen handelt es sich dabei?

Daniel Ziblatt: Im Kern haben wir es mit vier miteinander verwobenen Problemen zu tun. Erstens können wir feststellen, dass in vielen etablierten Demokratien wie in den Staaten der Europäischen Union oder den Vereinigten Staaten demagogische Parteien großen Zulauf finden, die früher nicht Teil des politischen Systems waren und nun eingespielte demokratische Verfahren gefährden. Zweitens ist innerhalb der Wählerschaft vor allem in den Vereinigten Staaten eine zunehmende Polarisierung zu erkennen. Die Wähler sehen sich nicht mehr als zusammenhängende Gruppe, die gemeinsam wählen, sondern als Gegner, ja sogar als Feinde. Drittens ist in den westlichen Demokratien die soziale Ungleichheit gewachsen. Das Bruttosozialprodukt ist gestiegen, nicht aber das Durchschnittseinkommen. Das untergräbt das Vertrauen in das Wohlstandsversprechen von demokratischen Ordnungen. Und schließlich ist die Bevölkerung in den westlichen Demokratien heutzutage wesentlich heterogener, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Das ist im Grunde eine erfreuliche Entwicklung, kann jedoch auch zu Spannungen in einer Gesellschaft führen.

Birklehof: Welche Rolle spielen dabei im engeren Sinne ökonomische Veränderungen – etwa die Tatsache, dass die Zeit großer Wachstumsraten vorbei zu sein scheint, also das „Goldene Zeitalter“ des Booms der Industriewirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg?

Daniel Ziblatt: Wenn wir uns die heutigen Herausforderungen der Demokratien ansehen, dann gehören zu ihren grundlegenden Ursachen die Entstehung einer postindustriellen Gesellschaft und die Veränderungen der internationalen Wirtschaftsordnung seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die westeuropäischen Staaten haben sich dabei übrigens im Schnitt etwas besser geschlagen als die Vereinigten Staaten, das politische System in Europa scheint für diese gewaltigen Veränderungen besser gerüstet gewesen zu sein. Beispielsweise ist die soziale Ungleichheit in den europäischen Staaten nicht in gleicher Weise gewachsen wie in den Vereinigten Staaten.

Birklehof: In Europa denken wir vor allem an Ländern wie Polen und Ungarn, wenn wir von Gefährdungen der Demokratie sprechen. Können wir Ungarn heute noch als Demokratie bezeichnen?

Daniel Ziblatt: Ungarn ist nicht mehr eine klassische, voll ausgebildete Demokratie. Es verfügt zwar noch über einige für Demokratien typische politische Institutionen und Verfahren. Es gibt Wahlen, es gibt Gerichte und unterschiedliche politische Parteien. Aber es ist sehr schwierig geworden, die herrschende Partei durch Wahlen aus dem Amt zu jagen. Andererseits geben vielleicht die Proteste der vergangenen Wochen gegen die autoritäre Regierungspolitik Grund für Hoffnung, dass das demokratische Bewusstsein in der Bevölkerung noch stark ist.

Birklehof: Die Verfassung der Vereinigten Staaten, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, die Institutionen und Regeln der Europäischen Union: In all diesen Regelwerken gibt es als vielfältige rechtliche Schutzmechanismen, um genau das zu verhindern, was Sie beschreiben, nämlich das Abgleiten von Demokratien in autoritäre oder sogar diktatorische Systeme. Wie wirkungsvoll sind diese Schutzwälle?

Daniel Ziblatt: Die Verfassungsordnungen stellen durchaus einen gewissen, wenn auch nicht absoluten Schutz dar. Ein Beispiel, die föderale Gewaltenteilung in den Vereinigten Staaten: Donald Trump kann zwar auf Bundesebene versuchen, rechtliche Verfahren gegen sich und seine Mitstreiter im Wahlkampf zu blockieren, auf der Ebene der Einzelstaaten, wo er zum Teil mit ganz ähnlichen Verfahren zu kämpfen hat, sind ihm aber die Hände gebunden. Die Verfassung begrenzt hier sehr wirkungsvoll seine Macht. Andererseits ist es so, dass große Teile der US-amerikanischen Verfassung so allgemein und ungenau gefasst sind, dass sie der Regierung einen sehr großen Handlungsspielraum lässt. Ungeschriebene Regeln und Normen und ihre Einhaltung sind daher besonders wichtig.

Birklehof: Welche Rolle spielen die neuen Medien beim Erfolg der neuen demagogischen Bewegungen?

Daniel Ziblatt: Die neuen Medien sind ein zweischneidiges Schwert. In jungen Demokratien können sie zur Organisation demokratischer Bewegungen ein sehr wichtiges und wirkungsvolles Instrument sein, das haben wir beispielsweise 2010 im Arabischen Frühling gesehen. In entwickelten Demokratien verfällt sich das aber anders. Hier besteht die Gefahr, dass die Menschen sich nicht mehr über unterschiedlichen Standpunkte austauschen, sondern sich über das Netz nur noch gegenseitig mit denjenigen Informationen versorgen, die ihre eigene politische Meinung unterstützen, und wir wissen, dass ein solches Verhalten dazu führt, dass sich die eigene Position radikalisiert. Ich würde aber sagen, dass die sozialen Medien eher ein Verstärker von Problemen der Demokratie und nicht deren Ursache sind. Der Spanische Bürgerkrieg ist ausgebrochen, obwohl es damals kein Twitter gab.

Birklehof: Was raten Sie jungen Menschen: Was können sie tun, um die Demokratie zu verteidigen?

Daniel Ziblatt: Der wichtigste Tipp ist: Wählen gehen und das demokratische Wahlrecht bewusst und überlegt einsetzen! Die Bürger haben mit dem Wahlrecht die Möglichkeit, Politiker zur Verantwortung zu ziehen. Deshalb sollte man auch nicht unüberlegt aus Gewohnheit irgendeine Partei wählen, sondern dieses Recht ganz bewusst nutzen. Wer dagegen nicht wählen geht, weil er glaubt, nichts damit beeinflussen zu können, handelt nach einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung!

Birklehof: Herr Ziblatt, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führte Peter Itzen, Lehrer für Geschichte am Birklehof.